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4. Sept. 2005:


"Katholiken zahlten doppelte Gebühr!"
Ich selbst hab' ja nicht viel erlebt - aber es gibt seltsame Tage!: Daran mußte ich mal wieder denken, als ich mit meinem Blechfloß auf der B3 von Celle kommend die Autobahn Hannover - Hamburg kreuzte, dort wo der große Trucker-Stop ist, kenn'Sie sicher. Da waren sie wieder, die Fernfaher, alle mitten im heftigen Erleben! Kurz danach kommt ja dann am Stadtrand von Soltau die Abzweigung nach Tetendorf, wo das Schäferkreuz steht - "Hier ward ein Hirt von seiner Herd' erschlagen...." - und rührend das kleine dreieckige Stückchen Haide. Schön zu sehen, daß auch heute noch scharf darauf geachtet wird, dieses Kreuz zu erhalten - mit Flüchen ist nicht zu spaßen! Nebenan gleich der McDonalds, daran erinnern Sie sich doch, aber die Symbolik paßt in unsere Zeit.
Von Soltau aus weiter auf der B3, auf deren zerbröckelnder Fahrbahn der Radfahrer aus "Schwarze Spiegel" mit hüpfendem Anhänger nach Hamburg strampelte, wär'Ich nach Welle gekommen - "Das Dorf Welle brannte" - und kurz darauf zum "Trelder Berg", wo die B75 (Bremen - Rotenburg - Scheeßel - Tostedt - Hamburg) die B3 kreuzt: "Und Beobachter waren auch keine mehr da: so zog ich gar die Shorts noch aus, und ließ mich ein Stündchen braten: Mitten auf der Kreuzung......(Und Sonnenbrand auf allen pikanten Stellen!)."
Trelde, Kakenstorf, Todtglüsingen - "Tod holt alle Menschen": Auf dem Weg nach Dithmarschen könnten Arno Schmidt und Wilhelm Michels in den Jahren 1964 und 1969 mibbm "Oppel Kappi Tähn" (wieso fällt mir hier "Täve Schur" ein? - Komisch!) hier auch durchgekommen sein (die Damen waren wohl dabei) - Arno Schmidt natürlich auf'm "Todessitz": "Nanu - - Menschnskint; schlafm Se mir bloß nich ein hier in mei'm Wagn"; meinte aber eindeutig den BRUDER des Schlafes...... Er harrte geduldig, daß ich zu berichten anfinge. Half mir auch zwischendurch mit nach vorn; neben sich; auf den "Todessitz"; (nu wenn schonn: bei einem anständigen Menschen lebt am Ende nur noch der Kopf!).-
Die schwarzgekleidete Proserpina Carmichael (denken Sie an den Sarg Karls des Großen!) aus "Die Schule der Atheisten": Übersetzen Sie sich deren Nachnamen ganz naiv mal ins Deutsche - etwa "Der Deutsche und sein liebstes Spielzeug" und auch: .....! - eben!
Aber diese Fortsetzung meiner Reise auf der B3 steht im Konjunktiv - an der großen Kreuzung in Soltau (auch ein "Großer Kain" - "Wo Chauffeur Kain seinen Fußgänger-Bruder Abel noch heute - ä ...", (und, allegorisch, ein paarmal schnell die Hand "umlegen"): - (Die nette Oma Herzog ist hier von einem Motorradfaher - ja - "umgelegt" worden!)) mußte ich "abzwicken" (so heißt das hier bei uns in Bayern) auf die B71 ("71er Spiel"!), um nach Rotenburg zu gelangen, wo ich an einer Beerdigungsfeier teilnehmen wollte. Daß mir vor allem "Schwarze Spiegel" und "Die Schule der Atheisten" im Hirn herumspukten, lag nicht nur an "B71" und den erwähnten Sehenswürdigkeiten an der B3, sondern auch am Zeitpunkt - ausgerechnet am 60. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Nagasaki war ich dort unterwegs.
Ich hatte diese Strecke früher schon mal zu befahren, an einem zumindest jahreszeitlich und meteorologisch besser passenden Tag - Mitte Februar bei Nieselregen, kalt, grau, diesig - "During the whole of a dull, dark, and soundless day ....., when the clouds hung oppressively low in the heavens, I had been passing alone through a singularly dreary tract of country; and at length found myself, as the shades of evening drew on, within view of the melancholy...." (E.A. Poe, The Fall of the House of Usher) - "....: verwelkde Häuser, die überdrüssich am Wege liegn; (fahl wie Giftpilze; aus graugelbm Ziegln; (die schon=neu wie verwittert aussehen: Grill'n vergessner ArchiTektn, vermutlich voll polizeiwidrijer Echos. Einije=davon rauchtn wie Vulkane)).... Ländliche GefährtWercke, deren Lencker schlafend dahinfuhren.... (Proserpina freilich gefällt's)." (SdA, Cosmo's Tagebuch).
Hätt'Ich damals in einem "Cit=15 traction avant" (natürlich schwarz!) gesessen, ich wär'Mir vorgekommen wie in einem dieser alten französischen Filme (nicht im Kino!), so etwa wie "Moderato Cantabile" mit Jeanne Moreau und Jean-Paul Belmondo! Jetzt aber fuhr ich durch eine grüne Hölle, so strotzte der Mais auf den Feldern und bildete das Laub der Alleebäume schwarz=grüne Tunnel. Und dann kam auch die von Radfahrern so gefürchtete Stelle mit "Wind immer schräg von vorn", wo jetzt - "Moderne Zeiten" - die Wind=Strom erzeugenden Generatoren ihre Rotor=Flügel pathetisch=beschwörend hoch in die Luft werfen, sodaß man sie kilometerweit sieht! Wie klein=bescheiden dagegen die einzige erhaltengebliebene Windmühle an dieser Strecke.
Bei der Einfahrt in die Stadt Rotenburg sehen Sie gleich rechts einen Friedhof, aber ich mußte zum Friedhof "Lindenstraße" (Nee, nee, nix Fernsehen, reiner Zufall!), wo der 101jährige Walther Egebrecht beerdigt werden sollte - jaa, Sie haben richtig gerechnet: geboren im Joyce=Barnacle-Jahr, aber nicht am Blooms=Day, das war meine Mutter, wie schon erwähnt, 10 Jahre später!
(:"Und "Ehebrecht" müßten alle Männer als ßweitn Vornam' führn" entschied Tanndte Heete:... (KAFF auch Mare Crisium, Ehebrecht war der mit der 8flügeligen Wintmühle und den abgesägten Stuhlbeinen - vom Atomkrieg "Im Jahrzehnt zwischen 1960 und 70" ist bekanntlich auch die Rede!)).
Anders als Heinrich Düring ist Walter Eggers, der Ich=Erzähler aus "Das steinerne Herz" (Sind die Verschreibungen "steineres" - "steinere" auf den Seiten 258 und 260 des Nachworts von Georg Klein im Suhrkamp-Band 1353 nun irgendwie "Absicht" oder doch nur schlampijer Zufall?), während des Handlungs-Zeitraums nicht nach Rotenburg gekommen, hat aber schon ganz zu Anfang seines Aufenthalts in Ahlden an die sich möglicherweise ergebende Notwendigkeit einer Reise dorthin gedacht: "Schon stand er da; rot, und innen blaugrau gepolstert: der Schienenbus, 9 Uhr 56 nach Verden: sind ja scharmante Dinger! (Und über Verden mußte ich ohnehin, wenn ich mal nach Rotenburg wollte, in'n Kirchenbüchern nachsehen)." - wird beim Schmökern in den Staatshandbüchern wieder an dieses Städtchen erinnert: "Im Tentakeltauwerk der Namen: ich schwenkte meine Zunge; las Schicksale ab, wie Gedrucktes; Amtmänner starben, Wehber 24.8.1851 in Rotenburg.... Nekromant Eggers." - und kommt schließlich auf die Fahrt dorthin noch einmal zurück: "(Ob ich doch erst noch nach Rotenburg fahre: ob die im Stadtarchiv noch was über Bode haben? Brieflich ist das immer so eine Sache;....".
(Apropos Suhrkamp-Band 1353: Der Zusatz "... nach Christi" zum Untertitel sollte meiner Viertels=Bildung nach anders lauten, einerseits, und andererseits fehlt er bei meinen älteren Ausgaben - watt denn nu! Und dann dieser schmalzige, geschwollene, heuchlerische Spruch: "In der Zusammenarbeit mit Suhrkamp wird Schmidt dorthin gestellt, wohin er gehört: in den Reigen der Klassiker der Moderne." (Hat er bei Haffmans noch nicht dazugehört? - Klingt wie 'ne Erziehungsmaßnahme, und "Ringelpietz mit Anfassen" fällt mir unweigerlich auch noch ein!) - - "Ein widriger Kerl" - so wird Walter Eggers im scharfsinnigen Nachwort des Georg Klein genannt: Also mich hat er, der Walter, gleich zu Anfang "zur Identifikation eingeladen" mit "Und gelassen 120 uff'n Tisch: sie waren's nicht gewöhnt, und besahen mich in freudiger Ratlosigkeit, das merkte man gleich. Also gute Leute!" Denn das scheint eine seiner Sorgen gewesen zu sein - dort auf eine hinterfotzige Gesellschaft zu stoßen, die nicht zu ihm passen würde. - "Das ist mehr als zynisch, das ist hämisch gegen Line, grausam gegen den Leser und durch den Lesenden hindurch hartherzig gegen jenen Eggers, den wir in der Ostzone kennenlernen durften. Das graziöse Wörtchen "lacrymos", hier ist es niederträchtig verwendet und deshalb von bizarrer Häßlichkeit." - Walter Eggers und "Niedertracht"? Sehen andere Leser das auch so?).
Wo wa'n wa? - Ja, - "Lindenstraße" - , hat auch für mich persönlich Stellenwert: Vom Friedhof ca. 250 Meter stadtauswärts steht das Haus, in dem meine Eltern die ersten zwei Jahre ihrer Ehe verbrachten und wo meine älteste Schwester geboren wurde, die kennenzulernen ich keine Gelegenheit hatte. Sie starb in Kleinkinderalter an Diphterie - ihr Grab gibt's heute noch neben dem ihrer Mutter (genau, der mit dem "Blooms=Day"-Geburtstag!), neben dem wiederum sogar das der Großmutter, der hübschen Putzmacherin Mariechen Wiemert, noch existiert, von 1921 (Napoleon war gerademal 100 Jahre tot!).
Wie schon gesagt, ich selbst hab' ja nicht viel erlebt - aber können Sie sich die Seelenpein einer 35jährigen Kriegerwitwe vorstellen, die krank darniederliegt, weiß, daß sie sterben und 4 Kinder im Alter von 7 bis 12 Jahren allein zurücklassen wird?
Also, ich mag Beerdigungen (Hat Arno Schmidt je über eine Beerdigung geschrieben, sie beschrieben?), vor allem, wenn wie in Rotenburg, alte Rituale gepflegt werden: Als die Sargträger, alle sechs nahezu gleich groß, kräftig und knochig, absolut ernstzunehmen und keiner unter 50, mit schwarzer Pelerine, Zylinder in den weiß=leinen behandschuhten Händen, sich gemessen und würdevoll gleichzeitig vor'm Sarg verbeugten und dann ihre vorgesehenen Plätze in der Kapelle einnahmen, hatt'Ich fast wieder das Gefühl, man müßte Kameras, Mikrophongalgen, Beleuchter und 'nen Regisseur im Safaristuhl irgendwo entdecken können! "Hierauf hoben die Lehrlinge den Deckel wieder auf den Sarg, und verschlossen ihn mit 7 Nägeln... unterdessen hob der Großmeister den eisernen Hammer, und ließ ihn dreimal fallen, auf das Kreuz von Eisen....". Das christliche Rahmenwerk (überhaupt das religiöse) denk'Ich mir immer weg, das ist "neuzeitliche" Tünche auf dem, was eigentlich passiert: Peilen Sie mal entlang Ihrer Ahnenreihe - welch' überwältigende Fülle an Beerdigungen! - da sehen Sie, daß von J.Chr. solange noch nicht die Rede dabei gewesen sein kann!
Zum "Totenschmaus" wurde nach der Beisetzung ins "Stadtidyll" geladen - so was kann man sich nicht ausdenken! - "Die Pracht des Speisesaals, worin man sich versammelte, die Menge der Wachslichter, womit er erleuchtet war, die Kostbarkeit des Tischgeräthes, die Niedlichkeit der Mahlzeit,...." - , und da kam ich in der Nähe des zuständigen Beerdigungsunternehmers zu sitzen, ich kenn'ihn von früher und werde ihn "Den Betreffenden" nennen! Ein bemerkenswert gebildeter Mann mit vielen Talenten und reich an Erfahrung: - "Na, so an die zehntausend Beerdigungen werd'Ich gemacht haben", war er zu hören, und daß er sich langsam aus dem "Geschäft" zurückziehen wolle, um jüngeren Platz zu machen: Wer weiß mehr vom Leben als so Einer!
Und dann saß nahebei noch der älteste Teilnehmer der Feier, der es sich trotz seiner 95 Jahre nicht hatte nehmen lassen, von weither anzureisen, um am Grabe des alten Freundes und Arbeitskollegen stehen zu können - wie ich trotz des Stimmengewirrs vernehmen konnte, hatten sie sich 1932 kennengelernt (Goethe war gerademal 100 Jahre tot!).
Einmal glaubte ich im Durcheinandergerede von einer nicht mehr ganz so jungen Dame gehört zu haben: "Mein Opa war'n Freund von B. Traven - bei mir gibt's 'ne neue Idee!" - aber da lag wegen des Missingsch, das dort von einigen gesprochen wurde, wohl 'ne Täuschung vor. Klar und deutlich hingegen kam vom "Betreffenden": "Die Kirche war da gnadenlos - Katholiken zahlten doppelte Gebühr!" (Die genossen aber offenbar noch das Privileg, die Kapelle benutzen zu dürfen, was den "Sekten" verwehrt war).
Indessen log sich der Alte warm mit Geschichten von "früher" und dem großen Halloo des ersten Wiedersehens mit dem jetzt Betrauerten nach dem 2. Weltkrieg, den beide wohl von Anfang bis Ende mitgestalten durften - "Keine Flucht, keine Vertreibung, keine Bomben, kein Verlust an Hab und Gut, Familien vollzählig und gesund" - im ländlichen Niedersachsen war das Schicksal wohl (statistisch gesehen) milder als z.B. in Hamburg oder in Schlesien!

Später kam von dort ein echter,
Fabelbauender Poet,
Denn es hatten Urgeschlechter
Guten Samen ausgesät.
(Theodor Däubler, Das Nordlicht)

(Was hat Unsereins denn schon erlebt! - Das konnte ich wieder erkennen, als auf der Heimreise in Thüringen ein alter Herr den kleinen Dänemark=Aufkleber am Heck unseres Wagens entdeckte und sofort erzählen mußte: Wie er mit nur notdürftig versorgten schweren Schußwunden an Arm und Oberkörper im Frühjahr '45 aus dem belagerten Königsberg entkam, zu Fuß das zugefrorene Haff überquerte und dann mit einem der Schiffe, die in allen kleinen Häfen auf Flüchtlinge und Verwundete warteten, nach Dänemark gelangte. Nach einer Odyssee durch Lazarette fuhr er schließlich für die britische Armee Lastwagen in Schleswig-Holstein, arbeitete mit beim Bau von Behelfsheimen für Flüchtlinge und kehrte irgendwann im Jahr 1946 nach Thüringen zu seinen Eltern zurück: - Glaube jaa niemand, ich sei irgendwie neidisch auf das, was dieser Mann, Arno Schmidt & Co. und die beiden Alten, haben mitmachen müssen - nee, wirklich nich!).
"Der Betreffende" (übrigens aus einer Flüchtlingsfamilie) war ebenfalls bei der Statistik angelangt: "O Nain, so selten gaa'nich, wohl zwischen 30 und 40, die 100 Jahre und mehr waren!" (Ergänze "alt", auch er genoß sichtlich die merkwürdig angeregte, ja geradezu heitere Atmosphäre dieser Feier, murmelte einmal allerdings was wie "Erinnern Se mich nicht an Kinds=Beerdigungen!"), konnte natürlich uns Laien mit seiner Berufserfahrung leicht verblüffen, so mit den "Körperform=Särgen": - "...die sind aber viel flacher als bei uns." - - : "Karl schnob verächtlich: alles "Nasenquetschel"! Erklärte auch den Ausdruck: wenn ein Gemeindearmer starb, lieferte man den Sarg aus Billigkeitsgründen grundsätzlich so flach, daß dem betreffenden Toten eben - :aha!" (StH)
"Autorassen: ungefähr so verschieden wie Hunde (und die Nase oft am Gesäß des Vordermannes; siehste: auch das soeben erschienene:...." (StH): So war ich beim Verlassen des Parkplatzes an der Lindenstraße, um zu jenem "Stadtidyll" zu kommen, hinter einem Wagen mit OHZ-Kennzeichen hergefahren. Am unteren Rand des Kennzeichens war zu lesen, daß das dazugehörige Fahrzeug bei einem Händler in Lilienthal gekauft worden war, und da wußte ich, dieser "seltsame Tag" wollte beschrieben sein! (In Lilienthal hab'Ich 1957 mal die Schulferien verbracht und später dann sogar kurzzeitig dort gewohnt! (Daß der Fahrer am Lenkrad jenes OHZ-Autos Meyer heißt und in einem Haus an der Lindenstraße aufwuchs, gehört in ein anderes Dominospiel).